Fast ein Jahr Krieg zwischen Russland und der Ukraine
Ein Standpunkt aus der Sichtweise des Roten Kreuzes von Christian B. Schad, Konventionsbeauftragter DRK Stuttgart auf Grundlage von IKRK Mitteilungen.
Es ist eine satzungsgemäße Aufgabe des Roten Kreuzes, über die Genfer Konventionen und damit das Kriegsvölkerrecht aufzuklären. Heute spricht man vom Humanitären Völkerrecht. Schon vor den zunehmenden Spannungen der Feindseligkeiten innerhalb der Ukraine bis zum Jahr 2022 wurde deutlich, dass diese zunächst interne Auseinandersetzungen zu lang anhaltenden Kämpfen, weit verbreitetem Tod, Zerstörung der Infrastruktur, menschlichen Traumen, finanziellen Verwerfungen und potenziellen Umweltkatastrophen führen kann. Dabei hat die Zivilbevölkerung – wie bei allen bewaffneten Konflikten – die Hauptlast der Folgen zu schultern.
Der 24. Februar 2022 muss für Europa als Zäsur gesehen werden. Man spricht von einer „Zeitenwende.“ Das Rote Kreuz ist national und international besonders gefordert, auf die humanitären Bedürfnisse im Krieg zu reagieren. Diese Erfordernisse sind größer als es die zur Verfügung stehenden Mittel sind. Die Strategie des Roten Kreuzes, im Konflikt zu helfen, fußt auf der Methode der Neutralität, der Unparteilichkeit und der Unabhängigkeit. Federführend bei der Durchführung von Hilfsmaßnahmen im bewaffneten Konflikt ist dabei das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, das IKRK. Grundlage für seine Arbeit sind die Genfer Konventionen, das Kriegsvölkerrecht oder auch humanitäre Völkerrecht genannt. Die hier formulierten Prinzipien und Rechte helfen dabei, Leben zu retten. Keine Organisation kennt die Folgen von Krieg so gut, wie das Rote Kreuz. Aus dem Gedanken heraus, die Folgen von Krieg zu mildern – Schlacht von Solferino 1859 – ist das Rote Kreuz als Organisation 1863 entstanden. Damit diese Institution rechtlich gesehen Zugang zu den Opfern von Kriegen hat, bedurfte es eines Vertrages: Die erste Genfer Konvention wurde 1864 ratifiziert. Damit entwickelte sich das humanitäre Völkerrecht. Diese Rechtsentwicklung ist bis heute nicht abgeschlossen. Grundlage für die Beurteilung von Kriegen heute sind die vier „Genfer Konventionen“ von 1949 und ihre drei Zusatzprotokolle. Diese wurden von allen Staaten unterzeichnet.
Internationaler bewaffneter Konflikt
Während es sich bei der überwiegenden Mehrheit der derzeit auf der Welt stattfindenden Kriege um nicht internationale bewaffnete Konflikte handelt, die meist als Bürgerkriege bezeichnet werden, ist der Krieg zwischen Russland und der Ukraine rechtlich gesehen als internationaler bewaffneter Konflikt einzustufen. Es ist ein Konflikt zwischen Staaten, ausgeführt von den Streitkräften der jeweiligen Länder. Damit ist das Kriegsvölkerrecht, also die Genfer Konventionen uneingeschränkt anwendbar. Wiederholt erinnert deshalb das IKRK die beiden kriegführenden Parteien an ihre Verpflichtungen aus den Verträgen. Zu diesen Verträgen gehören weitere internationale Verträge, wie zu Beispiel die Verbote, bestimmte Waffen einzusetzen. „Unterschiedslos wirkende Waffen sind verboten“ heißt es in den Genfer Konventionen. Dies bedeutet, dass bei einem Angriff immer zwischen Kombattanten und Zivilisten unterschieden werden muss und die Verhältnismäßigkeit der Mittel beachtet werden muss.
Ein bewaffneter Konflikt liegt immer dann vor, wenn innerhalb oder zwischen Staaten Gewalt angewendet wird. Wichtig dabei ist, dass es sich hierbei um eine Tatsachenwürdigung handelt, unabhängig von der Frage der Rechtmäßigkeit der Gewaltmittel zwischen diesen Staaten. Diese werden durch die UN-Charta geregelt, wobei dem Sicherheitsrat eine wichtige Funktion zukommt. Der Zweck des humanitären Völkerrechts besteht darin, Menschen zu schützen, sobald ein Konflikt ausgebrochen ist.
Humanitäres Völkerrecht und humanitäre Maßnahmen können nicht die Notwendigkeit ersetzen, den Frieden zu wahren und wieder Frieden herzustellen, wenn Konflikte ausbrechen. Eines der Mottos der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung lautet „Von der Menschlichkeit zum Frieden“. Es bringt die Hoffnung zum Ausdruck, dass die Wahrung eines gewissen Maßes an Menschlichkeit in bewaffneten Konflikten den Weg zum Frieden ebnen kann. Dazu möchte das humanitäre Völkerrecht beitragen.
Das Regelwerk, zu dem sich die Konfliktparteien verpflichtet haben, lässt sich im Wesentlichen in wenigen übergeordnete Ziele unterteilen:
- Verringerung menschlichen Leidens
- Beschränkung von eingesetzten Waffen
- Verhältnismäßigkeit der Kriegführung
- Schutz von Menschen, die nicht an Feindseligkeiten teilnehmen
- Schutz von Gefangenen und Toten, die in die Verantwortung der Gegner fallen
- Schutz der Helfer, Materialien und Institutionen (Schutzzeichen)
Regeln für die Durchführung von Feindseligkeiten
Im Kriegsrecht gibt es drei Kardinalprinzipien, die die Art und Weise regeln, wie eine Partei eines bewaffneten Konflikts militärische Operationen durchzuführen haben. Dies sind die Grundsätze der Unterscheidung, der Verhältnismäßigkeit und der Vorsichtsmaßnahmen. Diese Grundregeln zielen darauf ab, Zivilisten vor den Auswirkungen von Feindseligkeiten zu schützen. Gleich mit welchen militärischen Mitteln ein Angriff vorgenommen wird, müssen diese Regeln beachtet werden.
Das Unterscheidungsprinzip verlangt, dass die Parteien eines bewaffneten Konflikts jederzeit zwischen Zivilisten und zivilen Objekten einerseits und Kombattanten und militärischen Zielen andererseits unterscheiden. Vorsätzliche Angriffe auf Zivilisten müssen als Kriegsverbrechen eingeordnet werden. Zivilisten können nicht angegriffen werden, es sei denn, dass sie unmittelbar an Aktionen aktiv teilnehmen. Es gibt immer wieder Berichte über Zivilisten, die zu Waffen greifen. Einige werden in Einheiten der Streitkräfte eingegliedert, andere nicht. Einige werden nur sporadisch zu den Waffen greifen. In einer solch wechselhaften Situation ist eine der wichtigsten Regeln, an die man sich erinnern sollte, dass man von einen Zivilstatus ausgehen sollte. Eine Person, die Koordinaten einer gegnerischen Stellung per Handy sendet, ist kein Kombattant. Alle Personen, die nicht direkt an Kampfhandlungen teilnehmen, müssen im Sinne des humanitären Völkerrechts geschützt werden.
Angriffe dürfen auch nicht gegen zivile Einrichtungen wie Wohnungen, Schulen, Krankenhäuser oder medizinische Einrichtungen gerichtet werden, es sei denn, diese leisten einen wirksamen Beitrag zur militärischen Aktion und ihr Angriff bietet einen eindeutigen militärischen Vorteil. Als zivile Objekte müssen wesentliche Infrastrukturen verschont werden, einschließlich Krankenhäuser, Wasser-, Gas- und Elektrosysteme, die die zivile Infrastruktur mit lebenswichtiger Wasser- und Stromversorgung versorgen. Auch der Kulturgüterschutz ist zu respektieren.
Angriffe gegen einen Kombattanten oder ein anderes militärisches Ziel müssen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. Dies bedeutet, dass es verboten ist, einen Angriff zu starten, bei dem zu erwarten ist, dass Zivilisten getötet, Zivilisten verletzt und zivile Objekte beschädigt werden, was im Verhältnis zu dem erwarteten konkreten und direkten militärischen Vorteil übermäßig wäre. Anders ausgedrückt, ein militärisches Ziel darf nur dann angegriffen werden, nachdem eine Bewertung zu dem Schluss geführt hat, dass die zivilen Verluste und Schäden den vorgesehenen militärischen Vorteil voraussichtlich nicht überwiegen werden.
Jede Partei in einem bewaffneten Konflikt muss bei der Durchführung militärischer Operationen ständig darauf achten, Zivilisten oder zivile Objekte zu schonen. Sie müssen Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Die Konfliktgegner müssen bei der Wahl der Angriffsmittel und -methoden alle möglichen Vorkehrungen treffen, um übermäßige Schäden an Zivilisten und zivilem Eigentum zu vermeiden oder zumindest auf ein Minimum zu beschränken. Die Kriegführung in einem dicht besiedelten Gebiet ist deshalb grundsätzlich problematisch.
Das IKRK zeigt sich besorgt über die Kämpfe in der Ukraine und die dortigen großen Risiken für die Zivilbevölkerung, insbesondere in Städten und anderen besiedelten Gebieten. Heutzutage ist der Einsatz von Sprengwaffen mit weitem Wirkungsbereich die Hauptursache für zivile Schäden, die wir erleben. Zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser, Schulen, Wasserversorgung und Stromversorgung müssen aktiv geschützt und dürfen nicht angegriffen werden. Rechtmäßige Ziele in ihrer Nähe können nicht angegriffen werden, es sei denn, es wurde alles Mögliche getan, um eine Beschädigung dieser Infrastrukturen zu vermeiden, und es sei denn, zivile Schäden, einschließlich der Nachwirkungen der Schäden, sind nicht unverhältnismäßig.
Die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, die man in jüngster Vergangenheit sehen kann, sollten ein Weckruf für alle Staaten sein, klarer darzulegen, wie sie das Unterscheidungsprinzip umsetzen, gerade im Hinblick auf die Verwendung von schweren Waffen. Seit vielen Jahren fordern das IKRK und andere Institutionen eine bessere Einhaltung dieser Regeln, insbesondere im Häuserkampf. Es ist an der Zeit, das Unterscheidungsprinzip ernster zu nehmen, so das IKRK. Waffen, die in städtischen Schlachten auf der ganzen Welt eingesetzt werden, werfen ernsthafte Fragen darüber auf, wie Staaten dies umsetzen sollten. Es ist schwer zu erkennen, wie der Einsatz von ungelenkter Artillerie, Mörsern oder großen Bomben, Streumunition, mehrläufigen Raketenwerfern weiterhin als geeignet dargestellt wird, zwischen Zivilisten und Kombattanten und zivilen und militärischen Objekten in Städten zu unterscheiden. Die Auswirkungen durch den Einsatz dieser Waffen müssen begrenzt werden, wie vom humanitären Völkerrecht vorgeschrieben. Aus diesem Grund fordert das IKRK alle Staaten dazu auf, dass diese zerstörerischen Waffen in städtischen Gebieten nicht eingesetzt werden sollten.
So fordert das IKRK, dass vor Ort in der Ukraine die kriegführenden Parteien im Wesentlichen drei Schritte unternehmen, um die Grundsätze der Unterscheidung, der Verhältnismäßigkeit und der Vorsorge aufrechtzuerhalten: Erstens: Verzicht auf den Einsatz von Waffen, die für besiedelte Gebiete unangemessen sind und so großes Leid verursachen. Zweitens: Zivilpersonen das Verlassen belagerter oder eingekreister Gebiete zu gestatten, falls erforderlich durch Vereinbarungen über Waffenstillstände, humanitäre sichere Passagen oder andere Formen von Vereinbarungen, wobei das Augenmerk auf vulnerable Gruppen mit besonderen Risiken zu richten ist. Und drittens: Vermeidung von militärischen Stellungen in besiedeltem Gebiet sowie bei Anlagen, die gefährliche Kräfte enthalten.
Schließlich sind Beschränkungen der Waffenwahl ein wichtiger Bestandteil des Kriegsführungsrechts. Im Allgemeinen verbietet das humanitäre Völkerrecht jede Form von Waffen, die dazu geeignet sind, überflüssige Verletzungen und unnötiges Leiden zu verursachen. Das humanitäre Völkerrecht hat bestimmte Arten von Waffen durch eine Reihe internationaler Verträge verboten. Dazu zählen biologische, chemische, nukleare Waffen, aber auch Antipersonenminen und Streumunition.
Obwohl die Vertragsparteien das Übereinkommen über Streumunition bisher nicht unterzeichnet haben und Russland keine Vertragspartei des Übereinkommens über das Verbot von Antipersonenminen ist, verurteilt das IKRK jeden Einsatz solcher Waffen durch die am Konflikt beteiligen Parteien.
Geschützte Personen, einschließlich Kriegsgefangene und Häftlinge
Die Genfer Konventionen enthalten strenge, äußerst detaillierte Regeln zum Schutz Menschen, die dem Gegner in die Hände fallen. Leitmotiv all dieser Regeln ist die menschenwürdige Behandlung und Achtung der Würde der Verwundeten und Kranken, der Toten und der Inhaftierten, ohne Unterscheidung nach Rasse, Nationalität, Geschlecht und ähnlichen Kriterien. Diese Regeln bieten starken Schutz, wenn sie in gutem Glauben ausgelegt und umgesetzt werden.
Das Rote Kreuz setzt sich dafür ein, dass alle Verwundeten und Kranken, gleich von welcher Kriegspartei menschenwürdig behandelt werden. Dies war der Ausgangspunkt des modernen humanitären Völkerrechts. Alle Opfer müssen eingesammelt und gepflegt werden, egal auf welcher Seite sie stehen.
Jede Konfliktpartei muss die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um für geschützte Personen in ihrer Macht – verwundete, kranke und tote Militärangehörige, Kriegsgefangene und geschützte Zivilisten, die ihrer Freiheit beraubt sind – Rechenschaft abzulegen. Jede Seite muss die erforderlichen Informationen sammeln, zentralisieren und über das amtliche Auskunftsbüro an den Suchdienst des IKRK weitergeben. Das IKRK ist der neutrale Vermittler. Es übermittelt seine Informationen jeweils an die andere Seite. Diese Maßnahmen sind dazu da, um zu verhindern, dass vermisste Menschen verschwinden. Für die Angehörigen von Vermissten ist es wichtig, das Schicksal der Vermissten zu kennen.
Kriegsgefangene und inhaftierte Zivilisten müssen mit Würde behandelt werden und sind absolut vor Folter, Misshandlungen, Demütigungen und öffentlicher Neugier zu schützen. Dies gilt besonders für Bilder, die öffentlich in sozialen Medien verbreitet werden. Die Verschleppung insbesondere von Kindern ist verboten. Die Genfer Konventionen von 1949 enthalten spezifische Regeln für die Haftbedingungen und gewährleisten den Zugang des IKRK zu Häftlingen – sowohl zu Kriegsgefangenen als auch zu Zivilisten.
Die Wahrung des HVR
Es ist die Pflicht aller Staaten, die Genfer Konventionen allen ihren Staatsbürgern zu vermitteln. Dies ist auch die Aufgabe aller nationalen Rotkreuz-Gesellschaften. Aufgabe von Konfliktparteien ist es, das humanitäre Völkerrecht zu respektieren. Verpflichtend ist auch, für die Grundbedürfnisse der Bevölkerung unter ihrer Kontrolle zu sorgen. Wenn die Grundbedürfnisse nicht gedeckt werden können, so muss es zugelassen werden, dass humanitäre Hilfe geleistet werden kann. Diese Hilfe erfolgt unter dem Schutzzeichen des Roten Kreuzes. Das Rote Kreuz hat aufgrund der Genfer Konventionen hierbei eine Sonderrolle. Es ist Vertragspartei mit allen Staaten. Das IKRK verpflichtet sich, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um sich inmitten von Feindseligkeiten für die Achtung des humanitären Völkerrechts einzusetzen. Es kann Zivilisten aus der Gefahr evakuieren, die in Kreuzfeuer oder Bombardierungen geraten. Es kann Zivilisten und jenen, die Hilfe bedürfen schützen und medizinisch versorgen. Es kann diejenigen schützen, die nicht mehr länger an Feindseligkeiten teilnehmen. Auch können die Delegierten des Roten Kreuzes Inhaftierte besuchen und sicherstellen, dass ihre Rechte geschützt werden. So kann verhindert werden, dass Menschen verschwinden. Auch können so Familien wieder zusammengeführt werden.
Das IKRK fest, dass dieser „internationale bewaffnete Konflikt mit immensen militärischen Kapazitäten humanitäre Folgen hat, wie sie in einem so kurzen Zeitraum seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt wurden“. So beispiellos dieser Krieg in der jüngeren Geschichte erscheinen mag, aus Sicht des humanitären Völkerrechts führt dieser Konflikt jedoch nicht zu einem neuen Regelwerk: Das humanitäre Völkerrecht wurde geschaffen, um die Folgen genau solcher Konflikte zu begrenzen. Deshalb arbeiten auf der praktischen Ebene alle nationalen Rotkreuz-Gesellschaften zusammen, um die Not der Menschen vor Ort zu lindern.
Es ist nicht Aufgabe des Roten Kreuzes, Verstöße gegen die Bestimmungen der Genfer Konventionen öffentlich anzuprangern oder gar strafrechtlich zu verfolgen. Dafür gibt es andere Institutionen. Zentrale Bedeutung kommt hier dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu. Dieses Gericht kann aber erst im Nachgang eines Krieges Verstöße gegen die Regeln des Krieges feststellen und gegebenenfalls ahnden. Das Rote Kreuz kann den Krieg nicht verhindern, es ist seine Aufgabe, die Folgen zu mildern. Das wusste schon Henry Dunant, der Gründer des Roten Kreuzes.