Es sind vorwiegend Frauen, die das durch Männer im Krieg veranstaltete Grauen wieder in vernünftige Bahnen zu lenken versuchen. Diese Erfahrung machte schon Henry Dunant, als er 1859 in der Schlacht von Solferino die Initiative ergriff, um den Kriegsopfern zu helfen. Er aktivierte Frauen aus den Nachbardörfern, die ihm dabei halfen, wieder zivilisierte Zustände herbeizuführen. Aufgrund dieser Erfahrung wurde 1863 die bis heute größte, weltweit tätige, humanitäre Organisation gegründet: Das Rote Kreuz. Mit der Verabschiedung der Genfer Konventionen wurde 1864 auch das Humanitäre Völkerrecht eingeführt und bis in die Gegenwart hinein fortentwickelt. In allen folgenden Kriegen wurde das Rote Kreuz als neutrale Organisation gebraucht, um die Folgen der Barbarei für die Leidtragenden zu mildern.
150 Jahre nach Beendigung des Deutsch-Französischen Krieges, rund 100 Jahre nach dem ersten und 75 Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges fand nun im Zuge der deutsch-französischen Filmtage Tübingen und ausgerichtet vom „Institut culturelle franco-allemand“ die Erstaufführung des Dokumentarfilms „L`escadron bleu“ zur Arbeit des französischen Roten Kreuzes nach dem 2. Weltkrieg statt. Das Rote Kreuz in Stuttgart hat die deutsche Untertitelung ermöglicht, um so dem Film ein breites Publikum zu verschaffen. Geplant waren zahlreiche Aufführungen, unter anderem im Rotkreuz-Landesmuseum in Geislingen.
Die Premiere des Films fand am 1. November im Haus der Geschichte Stuttgart statt. Dies war der passende Ort, da sich Stuttgart rühmen darf, weltweit die erste nationale Rotkreuz-Gesellschaft zu sein. Dreißig geladene Gäste konnten an der einzigen Präsenzvorstellung teilnehmen, bevor die Kinos coronabedingt wieder schließen mussten. Alle weiteren geplanten Vorstellungen mussten erst einmal abgesagt werden. Im Anschluss an die Filmvorführung stand der Autor und Co-Regisseur Philippe Maynial per Livestream Rede und Antwort. Wie er berichtete, brauchte es zwei Generationen, damit über die damaligen Ereignisse gesprochen und gefilmt werden konnte. Der Einsatz der französischen Rotkreuzlerinnen war ein Tabu, über das man öffentlich nicht sprechen konnte. Maynial ist der Neffe von Madleine Pauliac, der Hauptfigur. Er hatte nicht nur ein persönliches Interesse an der Biographie seiner Tante, ihm war es wichtig, dieses vergessene Kapitel aus der Nachkriegsgeschichte einer breiten Öffentlichkeit zu zeigen.
Der Dokumentarfilm basiert im Wesentlichen auf den Aufzeichnungen von französischen Rotkreuzlerinnen, die am Ende des 2. Weltkrieg den Auftrag bekommen, französische Internierte, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und Verwundete zurück nach Frankreich zu bringen. An der Spitze des weiblichen Geschwaders steht die französische Militärärztin Madeleine Pauliac. Sie hat eine Mission: Es gilt, möglichst viele Landsleute aus den zahlreiche Gefangenenlagern der Deutschen zu retten. Durchsetzungsvermögen, Überzeugung und viel Diplomatie ist dabei notwendig. Eine Aufgabe, die kaum zu bewältigen ist, angesichts des Ausmaßes der Not. Die Frauen gehen die Strapazen trotzdem an. Fünf Rot-Kreuz-Ambulanzen sind zu Beginn der Dokumentation von Paris aus auf dem Weg Richtung Warschau. Ihre Fahrt führt zunächst über Dachau. Am 29. April 1945 sind sie bei der Befreiung des Konzentrationslagers durch die US-Armee dabei. Danach fahren die Ambulanzen rund um die Uhr dem Tode entronnene Franzosen in Krankenhäuser jenseits der deutschen Grenze, nach Mulhouse und Straßburg - gut 50 Mal, bis sie die Route nach Warschau einschlagen.
Nachdem diese erste Aufgabe durchgeführt ist, gelangen die zehn Frauen weit nach Osten, bis hinter Warschau. Es gilt, der Menschlichkeit wieder ihren Stellenwert zu geben. Die kleine Gruppe der L'escadron bleu ist unermüdlich auf Achse, angeführt von Madeleine Pauliac. Zu ihr gehören fünf Krankenschwestern sowie fünf Sanitäterinnen mit Fahrerlaubnis. Die jungen Frauen haben Erfahrung in der Résistance und an der Front gesammelt. Die schockierenden Bilder, die sie nun sehen, übertreffen alles bisher Gesehene. Für ihre Fahrt nach Osten haben sie fünf Ambulanzfahrzeuge vom Typ Austin, ein Geschenk aus England. Die blauen Uniformen stammen von US-Boys der Army, deshalb der Name „bleu“. Viele der rückkehrwilligen Franzosen im Osten flüchten aus Lagern nach Warschau, um von dort nach Westen zu gelangen. Viele sind zu schwach, um die Rückreise alleine antreten zu können. Viele der schwerkranken Franzosen werden hierher transportiert und erstversorgt, bevor sie dann per Flugzeug und Zug nach Frankreich gebracht werden können. Rund 300.00 Personen sind betroffen. Der Film zeigt das Gebäude, welches man heute noch in dem damaligen Originalzustand antreffen kann.
Pauliac und ihr Geschwader helfen nicht nur den Franzosen. In Danzig und rund um Warschau sind Nonnen in Klöstern von deutschen Soldaten wie auch von Rotarmisten überfallen und vergewaltigt worden. Einige sterben, viele werden schwanger. Madeleine Pauliac hilft ihnen heimlich bei der Niederkunft, kümmert sich um die Neugeborenen und gründet in einem Kloster ein Waisenhaus, auch für polnische Kinder. So können die Nonnen ihre Babys bei sich behalten. 24 Kinder vermittelt Pauliac zur Adoption nach Frankreich und lässt sie ausfliegen. Für diese unparteiliche Hilfe bekommt Pauliac später den höchsten Rotkreuz-Orden des polnischen Roten Kreuzes.
Der Film basiert auf den Recherchen des Autors und Koproduzenten Philippe Maynial. Emmanuelle Nobécourts 52-minütiger Dokumentarfilm von 2020 ist ein eindrucksvolles Porträt weiblicher Solidarität und Willensstärke. Es ist eine faszinierende, berührende Erzählung, ergänzt durch Archivaufnahmen, Fotos und schriftliche Berichte der Protagonistinnen. Er zeigt, was es bis in die Gegenwart bedeutet, die Werte des Roten Kreuzes zu leben.
Der Film kann über das DRK-Generalsekretariat für Ausbildungszwecke bezogen werden. Empfehlenswert ist auch der
Spiegel-Online-Artikel zur Erstaufführung in Deutschland. Für die Konventionsarbeit innerhalb des Roten Kreuzes ist der Film ein hervorragendes Medium, um den Auftrag der Verbreitung der Grundsätze und des humanitären Völkerrechts zu erfüllen. Auch für die DRK-Schwesternschaft ist dieser Film ein lehrreiches Dokument weiblichen Engagements. Dem Film ist innerhalb des Roten Kreuzes in Deutschland eine weite Verbreitung zu wünschen.